„Motor einer musikalischen Bewegung, die mit so gut wie allem aufräumt, was im Klassikbetrieb vor einem halben Jahrhundert noch als hoch und heilig galt“. Eine treffendere Umschreibung hätte Karl-Heinz Ott in seiner kürzlich erschienen Händel-Biographie für Christopher Hogwood nicht wählen können.
Wäre der aus dem englischen Nottingham stammende Christopher Hogwood ein Manager in der Wirtschaft, so würde man ihn als Generalisten bezeichnen, denn er ist sowohl ein von den namhaftesten Kritikern geschätzter Dirigent als auch ein hervorragender Pianist, bedeutender Musikwissenschaftler, Herausgeber und nicht zuletzt Schriftsteller. Unglaublich, wie er die Zeit für seine vielen verschiedenen Aktivitäten findet. „Es ist vor allem eine Frage der Organisation“, meint Hogwood dazu nach kurzem Nachdenken. „Als Musiker und Dirigent verbringe ich viel Zeit in Wartesälen, Lounges, im Flugzeug oder in Hotels. Zeit, die ich zum Schreiben, Forschen und Vorbereiten von Neuausgaben nutzen kann“, ergänzt er. Dabei betrachtet er nichts als Nebensache, sondern schenkt jeder noch so kleinen Aufgabe seine hundertprozentige Konzentration.
Ende des Dornröschenschlafs
Zurzeit bereitet er eine kritische Edition sämtlicher Werke eines zu
Unrecht in Vergessenheit geratenen italienischen Komponisten vor:
Francesco Geminiani, dessen Todestag sich 2012 zum 250. Mal jährt.
Geminianis Werke stellt Hogwood auf die gleiche Stufe mit denen
Corellis, Locatellis oder Händels, weshalb ihm an der Neuausgabe
besonders viel liegt. „Die Werke werden nur deshalb nicht aufgeführt,
weil es kein neues, kritisches Notenmaterial gibt“, betont der
Engländer. So distinguiert Hogwood erscheint, den Enthusiasmus für
dieses Projekt kann und will er nicht verbergen. Geminiani ist aber für
den Ehrendoktor der Universitäten Cambridge und Zürich keine
Neuentdeckung, denn bereits vor rund dreissig Jahren nahm er mit der
1973 von ihm gegründeten Academy of Ancient Music seine Werke auf
Schallplatte auf.
Vorgezeichneter Weg
Nicht zuletzt dank seines Lehrers Gustav Leonhardt schlug Hogwood sofort
nach Abschluss seiner Ausbildungen den von Pionieren wie Nikolaus
Harnoncourt vorgezeichneten Weg der historisch informierten
Aufführungspraxis ein und erarbeitete sich auf dieser Basis sukzessive
ein Repertoire bis ins 21. Jahrhundert. Er nehme zur Kenntnis, dass das,
was er und andere Wegbegleiter herausgefunden haben, heute zum
Allgemeingut in der Aufführungspraxis schlechthin geworden ist, lässt
Hogwood sich mit deutlicher Befriedigung entlocken. „Der Einfluss ist
sogar grösser, als ich zu Beginn meiner Karriere dachte, weil die
Erkenntnisse nicht mehr auf die Aufführung barocker oder klassischer
Werke beschränkt sind, sondern auf spätere musikhistorische Perioden
ausstrahlen“.
Gleichwohl erlebt er es immer wieder, dass seine Ansichten auch Widersprüche bei den Musikern, mit denen er zusammenarbeitet, auslösen. „Ich erhoffe mir das sogar, denn andernfalls würde mir die Arbeit langweilig“. Wobei zu sagen ist, dass die Orchester, die ihn regelmässig für Dirigate einladen, wissen, was Christopher Hogwood in Konzerten und Proben von ihnen erwartet: Präzision und vor allem Gefühl für den natürlichen Fluss der Musik gepaart mit spielerischer Eleganz und einer Portion Lebhaftigkeit.
Traditionen und neue Wege
Welches Orchester wäre prädestinierter mit einem solchen Dirigenten zu
musizieren als die Camerata Salzburg, die sich selbst die Suche nach
Exzellenz zum Ziel gesetzt hat? In der Tat gehört das renommierte
Kammerorchester zu jenen Ensembles, das den englischen Maestro nicht zum
ersten Mal für ein gemeinsames Konzert einlädt.
Bevor der Geiger Leonidas Kavakos 2007 die künstlerische Leitung des Orchesters übernahm, waren es vor allem zwei Persönlichkeiten, welche die Camerata prägten: ab Ende der siebziger Jahre zunächst Sándor Végh, zwanzig Jahre später Sir Roger Norrington. Auf beiden Traditionen kann Hogwood im Juni im Goldenen Saal mit einem klassisch-neoklassischen Programm wieder aufbauen.
Werke Haydns nimmt Hogwood heuer nur zu gerne in seine Konzertprogramme auf – genauso wie die der anderen, von ihm verehrten Jahresregenten. „In Gedenkjahren lassen sich Orchester und Konzertveranstalter bereitwillig auf meine Vorschläge ein, Mendelssohn, Martinu, Haydn, Purcell oder Händel aufzuführen – Komponisten, die in anderen Jahren häufig ins zweite Glied treten“, wie Christopher Hogwood bedauert.
Ganz besonders freut er sich darauf, erstmalig gemeinsam mit Gottlieb Wallisch zu konzertieren – Haydns Konzert für Klavier und Orchester in D-Dur, das geradezu einem Feuerwerk voller musikalischer Einfälle gleicht. Wallisch sei ein Pianist, der – wie er selbst – das Besondere suche, findet Hogwood. Selbstverständlich wird Wallisch das Konzert auf dem Hammerklavier spielen. Dass andere Pianisten Haydn oder Mozart auf dem modernen Steinway spielen, ist für Hogwood unerklärlich. „In meinen Augen verschenkt man so viel Transparenz im Klangbild“, ist er überzeugt.
Auf dem Steinway wird Wallisch im gemeinsamen Konzert aber auch spielen, und zwar Schostakowitschs erstes Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, in dem der russische Komponist den Neoklassizisismus mit ironischem Zwinkern betrachtet.
Fixpunkt London
Sowohl Haydns spätestes Klavierkonzert als auch seine zum Abschluss des
Konzerts erklingende Merkur-Symphonie in Es-Dur mit dem melancholischen
langsamen Satz entstanden in der Sturm und Drang-Zeit des Komponisten.
In den Jahren, in denen er am Hofe der Fürsten Esterházy die wichtigen
kompositorischen Sprossen für den späteren Erfolg in Paris und London
erklomm. Haydns erfolgreichen Aufenthalten und seinen beliebten Londoner
Symphonien galt bereits vor fast dreissig Jahren Hogwoods historisches
Interesse. Deshalb widmete er ihnen eine faszinierende Schilderung, die
er aus Anlass des 200. Todestags redigiert hat und die nun in der der
englischen Originalfassung wieder erhältlich ist. Wie geschaffen für
alle Besucher der aktuellen Ausstellung der Gesellschaft der
Musikfreunde.
Haydn und Strawinsky
Hogwood kombiniert die Werke seiner barocken und klassischen
Lieblingskomponisten gerne und häufig mit Neoklassischem. Corelli mit
Martinu, Haydn mit Strawinsky. Die beiden letzteren ergänzen sich für
ihn einfach perfekt in einem Konzertprogramm, und das nicht nur, weil
die Beiden für ähnliche Orchesterbesetzungen geschrieben haben. Auch im
Musikverein wird neben dem Haydn-Konzert und der –Symphonie etwas von
Strawinsky auf dem Programm stehen: das Concerto in Ré für
Streichorchester. „Für mich hat es seit Strawinskys Tod keinen
bedeutenderen Komponisten gegeben“, gibt Hogwood unumwunden zu.
Ein guter Grund für ihn, sich immer wieder mit seinem Oeuvre zu beschäftigen. So leitete er zu Beginn des Jahres mit grossem Erfolg am Teatro Real in Madrid seine Parabel vom durch Geld und Ruhm verblendeten Wüstling – The Rake’s Progress. Am Pult im Graben steht Hogwood sowieso gerne und regelmässig, am liebsten natürlich, wenn die Werke aus der Feder seiner Komponistenfavoriten stammen. Auf die Frage, ob ihn nicht auch Haydns Opern interessieren würden, erwähnt Hogwood L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice. Jedoch gibt er zu bedenken: „Es ist aber nicht ganz einfach, Haydns Opern heute auf die Bühne zu bringen. Die Libretti entsprechen nicht mehr dem Geschmack des Publikums, das vor allem Mozarts Da Ponte-Opern als Ideal einer Oper aus der Klassik vor Augen hat“.
Kulinarische Vorlieben
Hogwood ist ein vielseitig interessierter, offener Mensch. So
vielseitig, dass man immer wieder ins Staunen gerät. Wer würde denken,
dass der gewissenhafte Musikwissenschaftler und begeisternde Dirigent
auch Gourmettipps für London, Florenz, Mailand oder Istanbul verfasst?
Ebenfalls in die Sparte Kulinarik gehört seine neuestes Interesse: die
Geschichte des Picknicks. Etwas typisch Englisches würde man als
Kontinentaleuropäer meinen, doch Hogwood weiss es besser: „Das Wort
Picknick leitet sich vom Französischen picquenique ab und hat von dort
die Welt erobert“. Man darf sicher sein, dass seine Spurensuche in einen
hochinteressanten Essay münden wird, so sorgfältig geschrieben wie
seine letzte Monographie über Händels Wasser- und Feuerwerksmusik, über
die nicht nur die Musical Times des Lobes voll war.